
Warum wir dem Unerwarteten Raum geben sollten
Morgens beim Frühstück habe ich ein kleines Ritual: Ich scrolle durch Medium.com, auf der Suche nach Gedanken, die mein neuronales Feuerwerk entfachen. Neulich stieß ich auf ein Essay von Avi Loeb – und ein einziger kurzer Abschnitt ließ mich innehalten:
„Life is worth living if we allow for the unexpected to surprise us. Bureaucrats or unimaginative scientists want us to believe in the expected. But the rest of us know that the best is yet to come.“
Auf deutsch übersetzt:
„Das Leben ist lebenswert, wenn wir dem Unerwarteten erlauben, uns zu überraschen. Bürokraten oder fantasielose Wissenschaftler wollen uns einreden, nur an das Erwartbare zu glauben. Aber wir anderen wissen, dass das Beste noch vor uns liegt.“
Diese wenigen Zeilen vereinen so vieles, was über Leben, Freiheit und Hoffnung gesagt werden kann – und sie haben mich zu diesem Artikel inspiriert.
1. Leben heißt: Nicht alles im Griff haben
Ein wirklich lebendiges Leben ist nie komplett planbar.
Wer alles kontrollieren will, erstickt das Überraschende und gerade darin liegen viele unserer schönsten Momente. Ein unerwartetes Gespräch, eine spontane Idee, eine Wendung, mit der wir nicht gerechnet haben, sie bringen Bewegung ins Leben.
Philosophisch betrachtet ist das Leben kein Projektplan, sondern ein offener Prozess.
Sinn entsteht unterwegs, nicht nur im Erreichen von Zielen, sondern im Staunen über das, was wir nicht geplant haben. Wer alles im Griff behalten will, verliert oft gerade das, was ihn lebendig macht.
2. Das Reich des Erwartbaren: Sicherheit vs. Lebendigkeit
Loebs Kritik an „Bürokraten und fantasielosen Wissenschaftlern“ ist weniger eine Kritik an Personen, sondern an Haltungen.
- Der Bürokrat steht für Regeln, Vorgaben, Absicherung. Alles soll überprüfbar und planbar sein.
- Der fantasielose Wissenschaftler glaubt nur an das, was sich messen und berechnen lässt.
Beide Haltungen haben ihren Wert, ohne Ordnung herrscht Chaos, ohne Fakten nur Wunschdenken.
Doch wenn wir uns völlig dem Erwartbaren verschreiben, droht etwas anderes zu verschwinden: unsere Fähigkeit zu hoffen, zu träumen und uns zu wundern.
Ein Leben, das nur noch „funktioniert“, hört auf zu leuchten.
3. Die Freiheit der anderen: „Das Beste kommt noch“
„Wir anderen wissen, dass das Beste noch vor uns liegt.“
In diesem Satz steckt eine leise, fast rebellische Hoffnung, eine Haltung gegen Zynismus und den allgegenwärtigen Pessimismus, der uns einflüstert, alles werde schlechter.
Es geht nicht um naive Zuversicht, sondern um Vertrauen:
Darum, offen zu bleiben für Neues, Gutes, Besseres, egal, was war, egal, wie alt man ist. Das ist keine Statistik, sondern eine Entscheidung.
Wer das Leben als offen betrachtet, sieht die Zukunft nicht als Restzeit, sondern als Raum voller Möglichkeiten.
4. Zwischen Planung und Überraschung
Natürlich geht es nicht darum, Chaos zu glorifizieren. Reif ist, wer planen kann und trotzdem Platz lässt für das, was nicht planbar ist.
Plane, so gut du kannst.
Handle verantwortungsvoll, nutze Wissen, Erfahrung und Daten.
Aber bleibe innerlich locker genug, dass dich das Leben noch überraschen darf.
Das Unerwartete ist nicht immer angenehm, Krankheit, Verlust, Umbrüche gehören ebenso dazu.
Doch Loebs Gedanke zielt auf das positive Unerwartete: auf neue Freude, neue Menschen, neue Einsichten, neue Wege.
All das kann nur entstehen, wenn wir nicht jeden Winkel unseres Lebens durchstrukturieren.
5. Was das für den Alltag heißt
Philosophie wird erst wertvoll, wenn sie praktisch wird.
Dem Unerwarteten Raum geben heißt vielleicht:
- Nicht jedes Detail im Voraus planen.
- Gelegentlich „Ja“ sagen zu Dingen, die nicht in den Plan passen.
- Glauben, dass das Leben uns noch überraschen will – egal, was hinter uns liegt.
- Die eigene innere Bürokratie erkennen: diese Stimme, die sagt „Das lohnt sich nicht mehr“, „Dafür bist du zu alt“…
und ihr freundlich widersprechen.
Denn Leben ist Bewegung, keine Checkliste.
Fazit: Hoffnung als Haltung
Bürokratie liebt das Vorhersehbare.
Das Leben liebt die Überraschung.
Und Hoffnung bedeutet, innerlich davon auszugehen, dass das Beste nicht hinter, sondern vor uns liegt – auch wenn wir nicht wissen, wie es kommen wird.
Genau diese Mischung aus Nicht-Wissen und Trotzdem-Hoffen macht das Leben so spannend – und so kostbar.
Vielleicht ist es das, was Loeb meint: Das Leben wird lebenswert, wenn wir dem Unerwarteten die Tür nicht zuschlagen.
